Armutssensibilität beginnt im Kopf

Was bedeutet es in Armut zu leben und angesichts eines knappen Einkommens fortlaufend besorgt zu sein? Für einen Auftraggeber arbeite ich aktuell an einem Leitfaden, der diese Frage in den Blick nimmt. Denn es soll ein Leitfaden für mehr Armutssensibilität entstehen. Mit dem Thema Armut habe ich mich in meiner journalistischen Arbeit immer wieder beschäftigt.  2016 habe ich das Buch „Kampf um die Armut“ rezensiert. Ulrich Schneider, Hauptgeschäftsführer des Paritätischen Wohlfahrtsverbandes Berlin, hat es herausgegeben. Seine zentrale These: In Deutschland wird Armut geleugnet. Denn: Wer soziale Notlagen wahrnehmen und adäquat beschreiben will, brauche, so Schneider, die Fähigkeit zur Reflexion und vor allem eine angemessene Wortwahl. Denn: „Worte sind wichtig. Worte prägen über kurz oder lang unser Denken.“ Damit wäre schon eine Beschreibung gesetzt, was armutssensibel heißt – das eigene Handeln reflektieren, sich hineinversetzen können in das Gegenüber und die eigenen Worte im Gespräch achtsam wählen.

Schneider beschreibt darin auch, mit welch aggressiver Wucht etablierte Medien 2015 auf die Veröffentlichung des Armutsberichtes reagiert haben. Zentraler Streitpunkt war damals die Frage, wie Armut seriös zu definieren ist. Spiegelt der mager bestückte Warenkorb, an dem die staatlichen Transferleistungen bemessen werden, die reale Situation der Ärmsten wider? Oder ist das Konzept der „relativen Einkommensarmut“ griffiger, das der Verband vertrat? Selbst renommierte Medien warfen dem Verband Skandalisierung und Übertreibung vor. Die Journalist:innen wollten erst von Armut sprechen, wenn diese in Obdachlosigkeit und Verelendung sichtbar wird.

Der Paritätische Wohlfahrtsverband hat damals mit dem oben genannten Buch reagiert und mehrere Expert:innen um eine Stellungnahme gebeten. Dies belegte: Über Armut muss umfassender nachgedacht und geschrieben werden. Denn es geht um mehr als einen Einkaufszettel, sondern viel häufiger auch um verdeckte Armut, die zu Chancenlosigkeit, Ausgrenzung und Isolation führt. An der Realität von Armut hat sich bis heute wenig verändert – sie hat deutlich zugenommen. Vielleicht gibt es jedoch in Teilen der Gesellschaft und auch in manchen Redaktionen etwas mehr Sensibilität für das Thema – so jedenfalls mein Eindruck.

Im Zuge des aktuellen Auftrages habe ich jetzt ein weiteres, das 2017 erschienene Buch „Kein Wohlstand für alle“ von Ulrich Schneider gelesen. Eine Passage daraus erscheint mir heute wichtiger denn je –  weil wir jetzt den sich verschärfenden Klimawandel erleben, weil die soziale Ungleichheit weiter fortschreitet, weil die Lebenshaltungs- und Mietkosten eskalieren und weil einzelne Bevölkerungsgruppen – wie jetzt die Landwirte – immer wütender werden. Auf Seite 122 heißt es: „Dass selbst diese Erde, die doch fraglos und schicksalhaft unser aller Planet ist, das Eigentum relativ weniger ist, ist für mich immer wieder, wenn ich darüber nachdenke, die mit großem Abstand schrillste Ungerechtigkeit auf diesem Erdball.“ Das heißt: Ohne eine gerechte Bodenpolitik werden wir das zentrale Problem unserer Zeit, das Fortschreiten des Klimawandels, nicht bannen können.

Gerne verweise ich in diesem Kontext auch auf die Arbeit des Konzeptwerks Neue Ökonomie. Der gemeinnützige Verein aus Leipzig tritt dafür ein, unser Wirtschaftssystem ökologisch und sozial zu transformieren und hat im April 2023 das interessante Dossier „Gerechte Bodenpolitik“ veröffentlicht. Zentrale Erkenntnisse sind:

  • Landwirtschaftliche Böden sind in Deutschland sehr ungleich verteilt und werden zunehmend als Spekulationsobjekt genutzt.
  • Die Rechte kapitalstarker Akteur:innen auf dem Bodenmarkt müssen begrenzt und die Nutzungsrechte von Bäuer:innen, Junglandwirt:innen und gemeinwohlorientierten Betrieben dagegen gestärkt werden.
  • Der Bodenmarkt muss insgesamt transparenter gemacht werden, so dass die Konzentration von Eigentum erfasst werden kann und öffentlich sichtbar wird.
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